Buch Der Barbar als Kulturheld

Bazon Brock III: gesammelte Schriften 1991–2002, Ästhetik des Unterlassens, Kritik der Wahrheit – wie man wird, der man nicht ist

Der Barbar als Kulturheld, Bild: Umschlag.
Der Barbar als Kulturheld, Bild: Umschlag.

„In Deutschland gehört zu den wichtigsten Aktivisten auf diesem Feld (der Massentherapie) gegenwärtig der Performance-Philosoph Bazon Brock, der nicht nur eine weit gestreute interventionistische Praxis aufweisen kann, sondern auch über eine ausgearbeitete Theorie des symbolischen Eingriffs verfügt.“ Peter Sloterdijk in Die Verachtung der Massen, Frankfurt am Main, 2000, Seite 64

„Mit welchem Gleichmut Brock das Zähnefletschen der Wadenbeißer ertrug, die ihm seinen Erfolg als Generalist verübelten ... Bazon Brock wurde zu einer Symbolfigur des 20. Jahrhunderts, von vielen als intellektueller Hochstapler zur Seite geschoben und von einigen als Poet und Philosoph verehrt ... Er konnte wohl nur den Fehler begehen, sein geniales Umfassen der Welt nicht nur zu demonstrieren, sondern es lauthals den anderen als eine legitime Existenzform vorleben zu wollen.“ Heinrich Klotz in Weitergeben – Erinnerungen, Köln 1999, Seite 107 ff.

Sandra Maischberger verehrt Bazon Brock wie eine Jüngerin. Denn täglich, wenn es Abend werden will, bittet sie mehrfach inständig: „Bleiben Sie bei uns“ und sieht dabei direkt dem n-tv-Zuschauer Brock ins Auge. Also gut denn: „solange ich hier bin, stirbt keiner“, versicherte Bazon schon 1966 auf der Kammerspielbühne Frankfurt am Main. Erwiesenermaßen hielt er das Versprechen, weil ihm sein Publikum tatsächlich vorbehaltlos glaubte. „Dies Ihnen zum Beispiel für den Lohn der Angst Sandra, bleiben Sie bei uns“.

Bazon Brock hat in den vergangenen Jahrzehnten mit Schriften, Ausstellungen, Filmen, Theorieperformances /action teachings die Barbaren als Kulturhelden der Moderne aller Lebensbereiche aufgespürt. In den achtziger Jahren prognostizierte er die Herrschaft der Gottsucherbanden, der Fundamentalisten in Kunst, Kultur, Wirtschaft und Politik. Ihnen setzte Brock das Programm Zivilisierung der Kulturen entgegen.

Gegen die Heilsversprecher entwickelte er eine Strategie der Selbstfesselung und die Ästhetik des Unterlassens mit dem zentralen Theorem des verbotenen Ernstfalls. Das führt zu einer neuen Geschichtsschreibung, in der auch das zum Ereignis wird, was nicht geschieht, weil man es erfolgreich verhinderte oder zu unterlassen vermochte.

1987 rief Brock in der Universität Wuppertal die Nation der Toten aus, die größte Nation auf Erden, in deren Namen er den Widerruf des 20. Jahrhunderts als experimentelle Geschichtsschreibung betreibt.

Protestanten wissen, es kommt nicht auf gute und vollendete Werke an, sondern auf die Gnade des Himmels. Deswegen etablierte sich Brock von vornherein, seit 1957 als einer der ersten Künstler ohne Werk, aber mit bewegenden Visionen, die von vielen
übernommen wurden; z.B. „Ich inszeniere Ihr Leben – Lebenskunstwerk“ (1967), „Die neuen Bilderkriege – nicht nur sauber, sondern rein“ (1972), „Ästhetik in der Alltagswelt“ (1972), „Zeig Dein liebstes Gut“ (1977), „Berlin – das Troja unseres Lebens und forum germanorum“ (1981), „Wir wollen Gott und damit basta“ (1984), „Kathedralen für den Müll“ (1985), „Kultur diesseits des Ernstfalls“ (1987), „Wir geben das Leben dem Kosmos zurück“ (1991), „Kultur und Strategie, Kunst und Krieg“ (1997). „Hominisierung vor Humanisierung“ (1996), „Moderator, Radikator, Navigator – die Geschichte des Steuerungswissens“ (1996).

Deutsch sein heißt schuldig sein – Bazon versucht seine schwere Entdeutschung mit allen Mitteln in bisher mehr als 1.600 Veranstaltungen von Japan über die USA und Europa nach Israel. Gegen den dabei entstandenen Bekenntnisekel beschloß jetzt der Emeritus und elder stageman des Theorietheaters, sein Leben als Wundergreis zu führen, da Wunderkind zu sein ihm durch Kriegselend, Lagerhaft und Flüchtlingsschicksal verwehrt wurde.

Ewigkeitssuppe | 850.000 Liter des Tänzerurins | im Tiergarten, die wurden Blütenpracht. | Er sah die Toten der Commune in Pappschachteln | gestapelte Puppenkartons im Spielzeugladen. | Die schrieben Poesie des Todes, Wiederholung, Wiederholen. | Dann träumte er vom Kochen mit geheimen Mitteln | Zwerglute, Maulkat, Hebenstreu und unverderblich Triomphen. | Das war gute Mahlzeit des lachenden Chirurgen, | der ihn bis auf die Knochen blamierte.

Die Herausgeberin Anna Zika ist Professorin für Theorie der Gestaltung, FH Bielefeld. Von 1996 bis 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin um Lehrstuhl für Ästhetik, FB 5, Universität Wuppertal.

Die Gestalterin Gertrud Nolte führt ihre – botschaft für visuelle kommunikation und beratung – in Düsseldorf. Zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen für Graphikdesign und Buchgestaltung

Noch lieferbare Veröffentlichungen von Bazon Brock im DuMont Literatur und Kunst Verlag:

Actionteachingvideo „Wir wollen Gott und damit basta“, 1984;

„Die Macht des Alters“, 1998;

„Die Welt zu Deinen Füßen – den Boden im Blick“, 1999;

„Lock Buch Bazon Brock“, 2000.

Erschienen
01.01.2002

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Zika, Anna

Verlag
DuMont-Literatur-und-Kunst-Verlag

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-8321-7149-5

Umfang
953 S.: Ill.; 25 cm

Einband
Gebunden

Seite 4 im Original

I.1 Die Macht des Alters

Die Humanismusfalle

  • Nicht mit 20 Jahren als Kanonenfutter auf Schlachtfeldern zu enden,
  • nicht mit 30 an einer Blutvergiftung zu sterben,
  • nicht mit 40 einer Epidemie zum Opfer zu fallen,
  • nicht mit 50 als ausgezehrtes Arbeitstier ins Elend gestoßen zu werden,

das waren erklärte Ziele sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung. Altwerden zu können, war die Hoffnung in Zeiten, in denen das Durchschnittsalter der Bevölkerung unter vierzig Jahren lag.

Heute droht der Erfolg derartigen Fortschritts – die gefürchtete Alterslawine – jene humanistischen Zielsetzungen zu zerstören. Bedenkenlos wird zum „Krieg der Generationen“ aufgerufen, denn angeblich „beuten die Alten nur noch die Jungen aus“. Diese Kriegserklärung nimmt auf Tatsachen keine Rücksicht und leugnet die Erfahrungen, die man mit der Behauptung von Klassenkampf, Kulturenkampf, Rassenkampf, Geschlechterkampf machen konnte.

Alte jeden Alters

„Alte und Altern“ sind drängende Probleme unserer Gesellschaft und ihrer Zukunft.

Ministerien, Parlamentsausschüsse und Firmen beauftragten Soziologen, Mediziner und Ökonomen, Stellung zu beziehen. Die wissenschaftlichen Experten präsentierten ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit in allen Medien.

Aber vielen dieser Ansätze ist gemeinsam, daß sie Alter in erster Linie als ein Problem der letzten Lebensphase von Menschen auffassen.

Altern und die Alten sind jedoch nicht nur ein Problem für Rentenmathematiker und Bevölkerungsstatistiker, und auch nicht nur für die Werbung, die gerade die Alten als zahlungsfähigste Konsumentengruppe entdeckt.

Wir beginnen zu altern, kaum daß wir auf der Welt sind. Auch die Weltsicht und das Wissen der 20-60jährigen veralten in immer kürzeren Abständen. Man kann heute als 30jähriger gegenüber einem 25jährigen bereits „ungeheuer alt aussehen“. Schnell zu altern, ist offensichtlich nicht nur Moden beschieden, die sich per Definition alle sechs Monate erledigen sollen.
Und nichts ist älter als die Zeitung von gestern.

Altern als Wertschöpfung

Die Industrie entwickelte Strategien des Recycling, in denen das Veraltete wieder produktiv genutzt werden kann.

Kulturinstitutionen wie Bibliotheken und Museen sind darauf spezialisiert, mit dem Alten, Überständigen sinnvoll umzugehen. Sie sichern die Bedeutung des Alterns und des Alten für die Gegenwart; das ist ein wesentliches Kennzeichen aller kulturell wertvollen Leistungen.

Altern ist eine Strategie der Wertschöpfung und des Gewinns von Erkenntnissen – nicht nur für Antiquitätenhändler und wissenschaftliche Autoren, sondern für Jedermann, der sich erinnern kann.

Ältere Menschen leben von der Chance und der Fähigkeit, Einfluß zu nehmen auf das, was nach ihnen kommt.

Naturgemäß zeigt sich diese Einflußnahme am deutlichsten, wenn Alte etwas zu vererben haben. Gegenwärtig wechseln Billionenvermögen von der älteren zur jüngeren Generation – das sind übrigens weit höhere Beträge, als sie die Jungen für die Alten aufbringen. Rechnet man noch die Gemeinschaftseinrichtungen hinzu, die die Alten geschaffen haben und die Jungen nutzen, dann kann von der Ausbeutung der Jungen durch die Alten erst recht keine Rede sein!

Seit Jahrzehnten verfügen die Alten, vor allem ältere Witwen, über die Aktienmehrheit aller Industrien in der westlichen Welt.

Wie haben sie diese Einflußmöglichkeit genutzt? Bisher vornehmlich in Bahnen, die ihnen das Erbrecht vorzeichnet: die erste Generation baut, die zweite bewahrt, die dritte verschwendet. (Ausnahmen bestätigen die Regel.)

Selbst linkeste Linke halten es für völlig selbstverständlich, daß sie Mama und Papa beerben, obwohl sie sonst vehement die „Stimme des Blutes“ zu übertönen versuchen: „Deutscher soll nicht sein, wer deutsche Eltern hat, sondern wer in Deutschland lebt“.

Die Vererbung an genetische Nachkommen ist nicht sehr effektiv als Einflußnahme auf die nächste Generation.

Deshalb erprobt man in der Nähe von Tucson, Arizona, neue Kooperationsformen von Alten und Jungen: Emeritierte Wissenschaftler, pensionierte Kultur- und Wirtschaftsaktivisten haben sich zu einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen (Academy Village, bzw. „Einstein Acres“). Sie nutzen ihr Vermögen und ihre Erfahrung, um befähigte junge Leute ihrer Wahl auszubilden und sie zu ermutigen, mit den Pfunden der Alten zu wuchern.

Im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert des Kindes und der Jugend, hatten Jugendliche kaum einen Einfluß auf die Zukunft. Denn die zivil oder militärisch organisierten Jugendbewegungen waren eine Erfindung der Älteren und Alten. Wer heute z.B. einen kommerziellen Sender für Teenies betreibt, ist wohl nicht selbst zwischen 12 und 20 Jahre jung.

Die Ausrufung des Jugendkults seit etwa 1900 war eine raffinierte Strategie der politischen, sozialen und ökonomischen Einflußnahme auf den Nachwuchs. Pfadfinderhäuptlinge, Wandervogelführer und SAT1-Programmchefs boten und bieten das groteske Bild von Berufsjugendlichen in „kurzen Hosen“.

Die faktische Macht des Alters maskiert sich als „Triumph der Jugend“. Mehr und mehr Jugendliche durchschauen das und reagieren mit radikaler Abwendung von der Generation der Älteren. Bestenfalls machen sie sich noch lustig über die peinliche Anbiederung von Erwachsenen an das, was diese für den Ausdruck von Jugendlichkeit halten. Durch diese unversöhnliche Abwendung werden hoffentlich die Älteren gezwungen, die Rollen zu akzeptieren, die sie im Generationengefüge auszufüllen haben. Gegen allen Anschein repräsentieren 50-60jährige Rolling Stones oder Beach Boys mit ihren heutigen Auftritten in den Augen der Jugendlichen gerade nicht die Abschaffung des Alters und ewige Jugendlichkeit. Die Fans der Rock-, Pop- und Schlagerrevivals genießen die Aktualisierung der Musik von damals. Sie haben einen ausgeprägten Instinkt für die Bedeutung des Veralteten. Denn wenn das nicht präsent gehalten würde, hätte es gar keinen Zweck, eine eigene zeitgemäße Musik zu entwickeln. Die alten Knacker sind sehr gefragt, aber eben als alte Knacker – vital und agil, aber von gestern.

Nur wer „von gestern“ ist, ist auch „von morgen“! Das ist die einzige Chance der Gegenwärtigen, zukünftig zu sein: Altern ist die Zukunft der Jungen!

Strategie der Meisterschaft

Für Künstler ist Altern immer schon eine Strategie des Werkschaffens gewesen – eine Strategie der Meisterschaft. Künstler wußten nicht nur, daß ihr früheres Werk immer das ältere ist und das Alterswerk das Neueste. Sie setzten sich der Kritik aus, daß ihnen nichts Originelles mehr einfalle, wenn sie bei dem Altbewährten blieben, oder sie mußten sich dem Vorwurf stellen, nicht mehr die Alten zu sein, wenn sie sich stets um Innovation bemühten. Sind sie deshalb nicht mehr alterswerkfähig? Künstler wußten und wissen, daß sie ihrem Werk die Chance bieten müssen zu veralten, damit es als historisches Bedeutung erhalte.

Altern als Problem für Künstler

Am 7. März 1954 hielt Gottfried Benn in Stuttgart den Vortrag "Altern als Problem für Künstler", den der Süddeutsche Rundfunk aufzeichnete und mehrfach ausstrahlte. Er definierte in diesem Text:
„Wenn etwas fertig ist, muß es vollendet sein“.

Das Werk sei also die Einheit von Beenden und Vollenden einer Arbeit. Das ist eine entscheidende Forderung vor allem im Zeitalter prinzipiell endloser Werkprozesse, im Zeitalter der Bilderflut in allen Medien.

Dem Alltagsmenschen wird die Notwendigkeit, sein Leben zu beenden, erst im Alter unausweichlich. Er versucht dann, diese Zumutung der Beendigung auch noch als eine Vollendung seines Lebens zu verstehen. Benn zufolge stellt sich den Künstlern diese Aufgabe mit der Beendigung jeder einzelnen Arbeit.

Von den Künstlern zu lernen, heißt altwerden zu lernen, also zu lernen, Lebenslauf und Werklauf so in Beziehung zu setzen, daß die Erfahrung von Vollendung möglich wird.

Benn gibt deutlich zu verstehen, daß hinter seinen Überlegungen „etwas Persönliches“ steckt: er selber war damals 68 Jahre alt und wollte sich von früheren Positionen entlasten, die man ihm nach dem Zweiten Weltkrieg kritisch vorgehalten hatte. Zunächst hört sich der alte Benn um, wie seine Kollegen mit dem Altern fertiggeworden sind – auf den ersten Blick offensichtlich besser als ihre jeweiligen Zeitgenossen, die keine Künstler waren; denn überraschenderweise ist fast die Hälfte von ihnen alt, ja uralt geworden – und das selbst in Zeiten, als der Durchschnitt der Bevölkerung kaum das vierzigste Lebensjahr vollendete. Benns Schlußfolgerung: die den Bürger so faszinierende romantische Vorstellung vom „Verzehrungscharakter der Kunst“ muß falsch sein; vielmehr wirkt künstlerisches Schaffen Krankheit und Verfall entgegen: Kunst ist ein „Befreiungsphänomen“.

Diese Feststellung kontrastiert mit Benns Schilderung des Lebens alter Künstler: arm, ranzig, mit krummem Rücken, hustend, süchtig, asozial, ehe- und kinderlos verbrachten sie ihre letzten Jahre, ohne Schwärmerei für irgendwelche Ideale – wahrlich Erscheinungen einer „bionegativen Olympiade“. Mit diesem Begriff hatte Benn 1933-36 den Verfall der westlichen Kultur gekennzeichnet und die Vorhaben der nationalsozialistischen Zuchtveredelung unterfüttert. Benn bemühte sich, den offensichtlichen Widerspruch zwischen der „bionegativen Olympiade“ des Alters und der biopositiven Bilanz der unzähligen altgewordenen Genies aufzulösen: die Entscheidungsfreiheiten der Künstler sind nicht so groß wie vermutet; jede Generation wird mit zwingenden Problemen konfrontiert, die in der Luft liegen. Es ist alles viel vorherbestimmter, als man wünscht. – Und dann wiederholt Benn auch in dieser Rede sein Bekenntnis: „Sich irren und doch seinem Inneren weiter Glauben schenken müssen, das ist der Mensch, und jenseits von Sieg und Niederlage beginnt sein Ruhm.“

Brüche und Wandlungen, Versuch und Irrtum werden also zu Voraussetzungen einer „Kontinuität des produktiven Ich“; es kommt nur auf die Kraft an, die zugemuteten Zwangslagen „auszuhalten“ – mit Härte und Kälte gegen das eigene Werk. Selbst „wenn die großen Regeln sich vertauschen“, also alle Lebensverhältnisse umgestoßen werden, „hält sich das doch an einer Art Ordnung fest“, nämlich der „Wiederkehr des Gleichen, solange sich noch etwas gleicht“. Das klingt nüchtern und kalt, aber gerade deswegen überzeugend, meint Benn. Man kann es ohnehin niemandem recht machen, vor allem nicht im Alter. Wer fortfährt wie zu seinen besten Zeiten, muß sich vorhalten lassen, zu Entwicklung und Reife nicht fähig zu sein; wer sich im Alter mäßigt, gilt als senil. An dergleichen Vorwürfen darf man als Künstler nicht leiden. Man muß sie ganz äußerlich nehmen; denn es geht nicht um die „tiefen Reaktionen“ auf die Wahrheiten des menschlichen Daseins, sondern um Ausdruck: eine reine Formsache. Aus dieser Gabe der „un-tiefen Reaktion“, also sich nicht vom ewig Menschlichen berühren zu lassen, erklärt sich die hohe Widerstandskraft der Künstler gegen die Zumutungen des Lebens.

Benn deutet an, daß gerade die Konzentration auf den formalen Ausdruck als Initiative gegen Schuld verstanden werden könnte. Denn gerade das, was rein formal, ohne sozialen und psychologischen Tiefgang montiert wird, läßt sich in Dienst nehmen für Zwecke, die nicht mehr der Künstler verantwortet. Das ist ein schwacher Selbstentlastungversuch, weil Benn Anfang der 30er Jahre politische und soziale Zwecke für sich akzeptiert hatte, die zur Niederlage von 1945 führten.

Wenn aber jenseits von Sieg und Niederlage der Ruhm des Menschen (und nicht nur des Künstlers) beginnt, lassen sich aus Benns Erörterungen zum Altern Schlußfolgerungen für jedermann entnehmen. Zu altern heißt, die alltäglichen Anstrengungen zur Bewältigung des Lebens vorrangig unter dem Aspekt formaler Organisation zu sehen – anstatt jede Entscheidung mit Herz und Schmerz und im Gedanken an die tiefsten Wahrheiten und Ideale zu treffen. Tun, was getan werden muß – vor allem eine Sache, seine Sache fertigzumachen, lautet die Empfehlung, die schon die „Lebenskunst“ der antiken Stoiker auszeichnete.

Wer lange leben will, muß mit einer hinreichenden Oberflächlichkeit die Pflichten des Tages kontinuierlich und konsequent absolvieren – ohne Pathos und ohne Frustration. Gerade die größten Werke verdanken sich diesem nüchternen Arbeitsethos – nur Dilettanten schwärmen für den glücklichen Zufallswurf.

Alte sind Stoiker, und nur wer sich vom existenziellen Gejammer freimacht, hat die Chance, alt zu werden. Das ist wiederum die Voraussetzung dafür, lange und ausdauernd arbeiten zu können und damit in die Erzählungen der Nachfolgenden als besonders Befähigter einzugehen.

Gottfried Benn führt ausdrücklich ein Kriterium für die Beurteilung solcher Pflichterfüllung ein: „Wenn etwas fertig ist, muß es vollendet sein.“ Das ist weniger mysteriös, als es klingt. Benn orientiert sich mit seinem Postulat der Formvollendung ganz nüchtern und geheimnislos an den Verfahren der industriellen Produktion und des wissenschaftlichen Arbeitens: sezieren, analysieren, montieren von Vorfabrikaten sind Begriffe, mit denen er beschrieb, was er als Künstler tat.
Er beendete seine Arbeit, wenn er zu „Sätzen gefunden hatte, die vertretbar sind“ – analog zur Überprüfung von Hypothesen in der Wissenschaft.

Vollendet ist, was man nicht umhin kann, zuzugeben („Dinge entstehen, indem man sie zugibt“). Ein Industrieprodukt ist formvollendet, wenn es seine Funktion verläßlich erfüllt. „Ein Schlager von Klasse enthält mehr vom Jahrhundert als eine Motette“ – mit anderen Worten: ein erstklassiges Industrieprodukt enthält mehr Formvollendung als manches noch so angestrengte Resultat des Kunstbemühens.

Zur gleichen Zeit wie Benn arbeitete Theodor W. Adorno an seinem Rundfunkessay Das Altern der neuen Musik. Mit neuer Musik meinte er die Kompositionen von Schönberg, Berg, Webern, Hindemith, Strawinsky. Über weite Strecken argumentiert Adorno wie Benn. Er wirft den Nachfolgern jener Komponisten vor, nicht mehr die Kraft zu haben, die formalen Errungenschaften des Komponierens in der Zwölfton-Technik zu akzeptieren. Je geheimnisloser und vernünftiger, also formaler die Methoden Schönbergs verstanden werden mußten, desto verlockender die Illusion für die Nachfolger, man könne sich wieder zu „musikalischen Urstoffen“ flüchten. Adorno ahnte, was z.B. Stockhausen im Schilde führte: Rückzug auf kosmisches Gesäusel, das die Sinne überwältigt und Komponisten wie Zuhörer aus der Verantwortung für intellektuelle Anstrengungen entläßt. „Als die neue Musik lebendig war, meisterte sie die Illusion durch die Kraft des Gestaltens; heute verfällt sie ihr und legt die Schwäche zum Gestalten sich als Triumph kosmischer Wesenhaftigkeit zurecht“.

Mit Altern der neuen Musik, so Adorno, „ist nichts anderes gemeint, als daß dieser Impuls verebbt“, nämlich der Impuls zur „integralen und durchsichtigen Herstellung eines Sinnzusammenhangs“. Gemeint ist der Zusammenhang von sozialer Freiheit, Individualität und Subjektivität mit rationalen Methoden der Werkschöpfung. „Schrumpfen der sozialen Freiheit, Zerfall von Individualität …, Schwinden der Tradition innerhalb der neuen Musik selber“, das konstatiert Adorno als ihr Altern.

Im Unterschied zu Benn bewertet er dieses Altern durchweg kritisch.

Abschaffung des Alters?

Jede Gesellschaft ist für ihren Bestand auf die Übertragung kulturellen Wissens von der älteren Generation auf die jüngere angewiesen. Mit dem erklärten Generationenkrieg soll offensichtlich der lästig gewordene Bezug auf geschichtliche Erfahrung ausgeblendet werden, nach dem fatalen Motto: „Halten wir uns an die Jungen, das Alter laßt verrecken“.
Eine andere Form, das Alter verrecken zu lassen, besteht darin, es kurzerhand zu leugnen: die Segnungen der kosmetischen Chirurgie, optimaler Ernährung, von Fitneßtraining und kunstherapeutischer Animation führen tatsächlich zu einer gewissen Abschaffung des Alters. Euphorisch bewertet heißt das: Ältere und Alte werden nicht mehr als Wracks stigmatisiert.

Realistisch verstanden, führt aber die Abschaffung des Alters zum Verlust von sozialen Rollen, die Ältere überhaupt noch ausfüllen können. Die Älteren werden gezwungen, ihre Unterscheidbarkeit von den Jüngeren aufzugeben, sodaß sie als Lehrer und Vorbilder der Jüngeren nicht mehr wirken können. Inzwischen haben die Jüngeren allerdings bemerkt, daß sie selbst Opfer des Jugendkults wurden, weil sie mit älteren Stelleninhabern zu konkurrieren haben.

Die Abschaffung des Alters korrespondiert mit einer Abschaffung der Jugend; Jugendliche werden durch die Massenmedien heute bereits weit vor der Pubertät Lebensbildern ausgesetzt, für die ihnen die Erfahrung fehlt und durch die es ihnen unmöglich gemacht wird, in der spezifischen Rolle von Heranwachsenden Erfahrungen zu sammeln.
Beispiele sind die 10-14jährigen jugendlichen Kriminellen, die keine Kindheit haben und deshalb niemals erwachsen werden können.

Einerseits ist Alterslosigkeit bei Erreichen einer hohen Zahl von Lebensjahren ein durchaus wünschenswertes Ziel. Andererseits rutschen wir gerade damit in die „infantile Gesellschaft“, die ihren Mitgliedern verweigert, erwachsen zu werden.
Was haben wir diesem kultisch gefeierten Infantilismus entgegenzusetzen?

Die Werke.

Was heißt schon Werk?

Die Werk-weg-Gesellschaft

Pathetisch verkündeten Modernisten dieses Jahrhunderts den Abschied vom geschlossenen Kunstwerk.
Sie plädierten für das „offene Kunstwerk“ oder für work in progress. Damit wollten sie den traditionellen Anspruch loswerden, jedes Kunstwerk hätte „akademischen“ Regeln zu genügen. Solche Regeln hatte z.B. Aristoteles aufgestellt: Erzählungen oder Bühnenstücke sollten die Einheit von Handlung in Raum und Zeit wahren.
Die Modernisten hingegen lösten diese Einheit auf, indem sie mit Verfahren der Rückblende, der Montage, der Simultaneität und des beliebigen Perspektivwechsels arbeiteten.

Bis vor kurzem wurde jeder Künstler höhnisch als konservativer Naivling belächelt, der seine Arbeitsresultate als „Werk“ präsentierte, also als ein in sich geschlossenes, logisch durchkalkuliertes Ganzes.
Solche Werklogiken beschrieb etwa Lessing. Sie sollten die dramatische Entwicklung einer Erzählung oder Darstellung so ermöglichen, daß sie von einem Beginn zu einem konsequent sich ergebenden Ende führen.

Modernisten setzten aber bewußt auf Beginn- und Endlosigkeit ihrer Arbeitsvorhaben. Das Arbeiten wurde zu einem permanenten Prozeß, den man nur aus Erschöpfung unterbrach oder um überhaupt etwas ausstellen und/oder verkaufen zu können.

Künstlergruppen benannten sich nach Begriffen, mit denen solche endlosen Bewegungen gekennzeichnet werden, z.B. als Dreh- und Mahlstrom (Vortizisten) oder als ein strömendes Fließen (Fluxus).
Heute fließen in unserer Vorstellung die 24-Stunden-Programme von Dutzenden gleichzeitig empfangbarer TV-Sender und Internetangeboten zu einem solchen beginn- und endlosen Zeichenstrom zusammen, einem Dauerrauschen.

Künstler wollten sich als „modern“ ausweisen, indem sie ihre Arbeitsverfahren denen der modernen Industrie anglichen. Anstatt bloß Inspirationen zu folgen, wollten auch sie auf das nüchterne Kalkül setzen und sich aus diversen Rohstoff- und Halbfabrikatquellen speisen, die sie dann zusammenmontierten.
Dabei übersahen die Künstler aber, daß gerade industrielle Güterproduktion auf definitive Ziele ausgerichtet ist. Kein Industriearbeiter käme nämlich auf die Idee, aus Lust an der Montage endlos und beliebig Teile zusammenzufügen. Sein Ziel ist das fertige Produkt, das sich aus der Umsetzung eines Planes ergibt.

Die strikte Werkorientierung industriellen Produzierens hätte jeder Künstler leicht nachvollziehen können: Wenn er bei einem Autohändler ein Fahrzeug kauft, das nach kurzem Gebrauch seinen Geist aufgibt und in seine Einzelteile zerfällt, gibt er sich schwerlich mit der Antwort des Werkmeisters zufrieden: „ich bin eben ein Vertreter des offenen Werkprozesses.“

Es ist also ein schlichter Irrtum der Künstler, ihre Verfahren der offenen Werkprozesse mit dem Hinweis auf industrielle Produktion als modern zu rechtfertigen.

Andere Künstler versuchten jedoch, sich mit Fragmentieren, Collagieren, Dekonstruieren gerade von der industriellen Rationalität abzusetzen. Damit verzichten sie aber per se darauf, ihre Arbeitsresultate noch als „Werke“ ausweisen zu können. Statt Werk-Schaffen also „werkeln“! Folgerichtig wurden solche Künstler von der Industriegesellschaft in die Therapiezentren für kreative Lockerungsübungen zur Vertreibung von Langeweile oder störenden Gedanken delegiert.

Erstaunlicherweise nennen wir im Alltag Arbeitsresultate von Künstlern aber immer noch „Kunstwerke“, obwohl sich die Modernisten so heftig gegen diesen Begriff gewehrt haben.

Offensichtlich ein Kampf gegen Windmühlen, denn unter dem Druck des permanenten Zeichen-Mahlstroms aller Medien sprechen auch Künstler wieder verstärkt von „Werken“, um ihre Arbeitsergebnisse zu bezeichnen.

Das griechische Wort für Werkschaffen ist poiesis (wie in „Poesie“). Damit sind wir zurück bei Aristoteles. Denn er führte die Entgegensetzung von Praxis und poiesis ein. Praxis heißt sich selbst genügende Tätigkeit ohne Schlußpunkt, Poiesis meint zielgerichtetes Produzieren von Werken.

Aus dieser Entgegensetzung kann man sich nicht in die beliebte Ausrede flüchten, der Weg sei das Ziel.

Meister fallen nicht vom Himmel

Als Künstler wird man nicht geboren.
Zum Künstler bildet man sich aus.

Aus Zeiten, in denen Bildhauer und Maler noch als Handwerker galten, stammt die Bezeichnung „Meister“, die sich heute noch im rechtsverbindlichen Begriff „Meisterschüler“ (eines lehrenden Künstlers) erhalten hat.
Mit weniger Rechtsanspruch verwendet man im Italienischen den Begriff maestro für die nachdrückliche Auszeichnung eines künstlerisch bewährten Orchesterleiters oder Komponisten.

Der master of arts (Magister) wird als akademischer Grad erworben und verweist auf die Meisterschaft in der Kenntnis von Künsten.
In Frankreich meint maitre bis heute die Kennzeichnung nicht nur von handwerklichen, sondern von vornehmlich intellektuell Tätigen: Dort tragen Anwälte diesen Titel.
Die Maitresse gilt nach wie vor als eine Meisterin ihres Faches.

Selbst „moderne“ Meisterschüler und Magister der Künste lehnen aber die Begriffe Meister und Meisterschaft ab. Warum? Wahrscheinlich deshalb, weil seit den 50er Jahren mit dem Begriff Meister väterliche Autorität einerseits und Zunftreglement andererseits verbunden werden.

Tatsächlich aber ist für die Geschichte der Moderne die Berufung auf die Tradition des Meisterhandwerks ebenso wichtig wie die Anlehnung an die industrielle Produktion.
Im historischen Bauhaus sollten beide Stränge der Modernisierung zusammengeführt werden: Das Vorbild der Meisterschaft in Meisterkursen und industrielle Entwurfs- und Produktionstechniken wurden von Walter Gropius in der team-Arbeit vereinheitlicht. Die Anleitung durch den Meister und die Orientierung auf den technisch-rationalen Plan ergab den master-Plan.

Der folgenreichste Masterplan dieses Jahrhunderts vereinigte die Zünftigkeit von Blut und Boden mit der Effektivitiät von Hochtechnologien. Auf solche Meisterschaft bezog sich Paul Celan mit seiner berühmten Formulierung „der Tod ist ein Meister aus Deutschland“.

Im Bereich der Künste dominierten die Meistersinger. Sie propagierten mit Wagner den Kampf der Heiligen Deutschen Kunst gegen „welschen“ (= französischen) Zivilisations-Tand wie gegen jüdische intellektualistische Zersetzung.

Ist dieses historische Verständnis von Meisterschaft zu radikal? Dann starten wir die Auslegung von Modernität gegenwärtig neu: entweder mit einer ironisch-kabarettistischen Zuspitzung des Meisterbegriffs, wie er in der Anrufung von Guildo Horn durch seine Fans sichtbar wird; oder mit Werturteilen in der Unterscheidung von gekonnt und stümperhaft, dilettantisch und professionell.

Also verwenden wir die Begriffe Meisterschaft oder meisterlich als Kriterium der Unterscheidung, selbst wenn wir diese Begriffe im Wortlaut vermeiden.

Und Strategien der Meisterschaft?
Sie gelten der Gewichtung von

Hinzufügen und Wegnehmen
Entwerfen und Verwerfen
Denken und Handeln
Tun und Nichttun
Verstehen und Gebrauchen.

Wieso Vollendung?

Hinzufügen und Wegnehmen

Solche optimalen Gewichtungen werden durch den Begriff der Vollendung charakterisiert. Strategien der Meisterschaft sind also auf Vollendung gerichtet. Zunächst auf Vollendung als Perfektion: wenn irgendetwas Geschaffenem nichts hinzugefügt und nichts weggenommen werden kann, ohne seine Funktion und seinen Gebrauch zu beeinträchtigen, wird es als perfekt beurteilt (Der Schuh sitzt, paßt und hat Luft).

Diese Anforderung wurde mit der Einführung von Qualitätskontrolle bei massenproduzierten Gütern zum entscheidenden Kriterium der Beurteilung.

Auch die Betrachter von Kunstwerken wollten sich darauf verlassen dürfen, daß sie vor Arbeitsergebnissen stehen, denen nichts mehr wegzunehmen oder hinzuzufügen ist. Diese Vorstellung wurde besonders herausgefordert, als Cluzot seinen Film über Picasso in die Kinos brachte. Picasso demonstrierte für den Film beim Malen auf eine Glasscheibe, die zwischen ihm und der Kamera stand, daß es ihm jederzeit möglich war, einem realisierten Bild beliebig viel hinzuzufügen oder durch Übermalung wegzunehmen. In den Kinos spürte man förmlich das Erschrecken des Publikums über diese permanente ziellose Verwandlung (Praxis ohne Poiesis). Vereinzelt hörte man Rufe: „Das ist ja Wahnsinn, warum hört er nicht auf, jede einzelne Phase war doch bereits perfekt!“

Perfektion bezeichnet gemeinhin die höchstmögliche Übereinstimmung zwischen Plan und Ausführung, zwischen Hinzufügen und Wegnehmen, zwischen Beginnen und Beenden. Picasso aber verstand offensichtlich unter Perfektion die Leistung, jede Gestaltung als eine neue Problemstellung erkennbar werden zu lassen.
Generell muß man also Kunstwerke als Problemstellungen und nicht als Lösungen von Problemen betrachten. Vollendung kennzeichnet so die Perfektion als Fragestellung, deren Beantwortung in immer neuen Fragestellungen besteht.

Entwerfen und Verwerfen – Infinito – Das künstlerische Imperfekt

Jeder Museumsbesucher hat Künstlerarbeiten vor Augen, die offensichtlich unfertig sind und dennoch als vollkommene Werke geschätzt werden.
Das weltweit bekannteste Beispiel bieten die sogenannten Boboli-Sklaven von Michelangelo. Als „Triumph im Mißlingen“ bewerten Kunsthistoriker diese Figurengruppe, die Michelangelo zwischen 1530 und 1534 für das Grabmal Papst Julius’ II. zu schaffen beabsichtigte. Die nur teilweise aus den Marmorblöcken herausgehauenen Figuren wurden als unfertige zum Programm, als hätte Michelangelo gerade in diesen Gestalten den „Körper als dunkles Verlies der Seele“ und die „Welt als steinernes Gefängnis des Menschen“ darstellen wollen.

Abbrechen, verwerfen, aufhören, beenden ohne das Ziel erreicht zu haben, ja scheitern und mißlingen müssen also nicht zwangsläufig dem Eindruck der „Vollkommenheit“ entgegenstehen.
Auch wurde immer wieder die Erfahrung gemacht, wie spannungslos, tot und uninteressant ruinierte Skulpturen oder Malereien wirkten, wenn man den angenommenen Zustand der Vollendung rekonstruierte. Künstler haben das experimentell erwiesen. Sie versuchten, fehlende Glieder, Bemalungen und Accessoires ruinöser antiker Statuen zu ergänzen. Oder sie versuchten, wie Arno Breker, Vorstellungen klassischer Vollendung in eigenen Werken zu entsprechen – die Ergebnisse waren höchst unbefriedigend. Die herkömmliche Erklärung dafür lautet: das vermeintlich Vollkommene schränkt die Phantasie des Betrachters ein. Es fehlt der Anreiz, die eigene Vorstellungskraft zu aktivieren.

Mit dem Beispiel der Boboli-Sklaven etablierte sich in der Kunstgeschichte der Werktypus des Infinito, des Unvollendeten.
Der Triumph im Mißlingen oder das Scheitern als Form der Vollendung konnte zum Inbegriff künstlerischer Größe werden. Aber nicht alles Unfertige ist auch unvollendet, und nicht jedes Scheitern gelingt.

Warum nicht?

Denken und Handeln – Vollendung als Denkfigur

Wenn man die moderne Welt realistisch kennzeichnen will, hebt man hervor, wie zerstückelt, austauschbar, unverbindlich und häßlich alles geworden sei. Als Künstler ist man nur Realist, wenn man diesen Verhältnissen Ausdruck gibt. Aber wer von Fragmenten spricht, muß doch wohl eine Vorstellung vom „Ganzen“ haben; wer das Häßliche beklagt, weiß offenbar, was schön ist, auch wenn er nichts vorweisen kann, was für ihn das „Ganze“ und „Schöne“ auf vollkommene Weise verkörpert.

Wir führen das Schöne, Gute und Wahre immer dann an, wenn wir der Zumutung von Häßlichkeit, Unverbindlichkeit und Täuschung ausgesetzt sind. Nie empfinden wir die Sehnsucht nach der schönen heilen Welt stärker als zwischen Trümmern oder vor dem Scheidungsrichter.

Je weniger die Realität unseren Idealen entspricht, desto stärker machen sich diese Ideale bemerkbar.
Alle Versuche, sie in Staaten, persönlichen Beziehungen oder Werken zu verwirklichen, hatten katastrophale Folgen.
Wir müssen uns daran erinnern, was uns die Philosophen lehrten: Ideale sind nur Denknotwendigkeiten, um die Welt realistisch sehen zu können.
Deshalb haben zu allen Zeiten Menschen ihre jeweilige Welt so empfunden, wie wir die heutige, obwohl wir davon überzeugt sind, daß früher alles besser war: die Werte verbindlicher, das Weltverständnis einfacher, die Kunstwerke reife Meisterleistungen der Vollkommenheit.

Schlußfolgerung für unsere Argumentation: die Wirkung von Kunstwerken können wir daran bemessen, wie sehr sie den Betrachter veranlassen, Vollendung oder Schönheit oder Geschlossenheit zu denken, obwohl kein Werk diese Ideale je faktisch erfüllen kann.

Tun und Nichttun – Finito

Schreiben ans Ministerium für Landwirtschaft und Forsten: „Ich habe gehört, daß man für Nicht-Aufzucht von Schlachtvieh und Milchkühen und für das Brachlegen von Feldern Gelder erhält. Ich bitte um Antragsformulare, da ich bisher immer darauf verzichtet habe, Schlachtvieh aufzuziehen oder ein Feld zu bestellen.“

Obwohl also Vollendung nur eine Denknotwendigkeit ist und keine Gestaltungsanweisung, lehnten die Modernisten auch diesen Begriff ebenso radikal ab wie den der „Meisterschaft“ oder des „Werkes“. Damit erweisen sie sich als Begriffsfetischisten, die alles, was man in Begriffe fassen kann, schon für eine Realität halten.

Im eigentlichen Sinne modern denkt aber, wer Begriffe wie Namen versteht, also als bloße Hilfsmittel unserer Orientierung in der Welt.

Wer die ewige Streiterei um des Kaisers Bart satt hat, entzieht sich den peinigenden Verfolgungen durch Begriffsrealisten und den Spielereien der Namensjongleure auf radikale Weise. Man hält es im Kopf nicht aus, ständig als Kunstwerk rechtfertigen zu müssen, was keins ist und alle vierzehn Tage einen neuen -ismus ernstnehmen zu sollen. Man hört auf!

Duchamp hörte auf mit dem Kunstwerkgetue und spielte fortan Schach mit Freunden in Caféhäusern; Rossini tauschte das Notenpapier gegen den Suppentopf; Greta Garbo verschwand aus dem Scheinwerferlicht der Filmstudios hinter die Sonnenbrille des privaten Lebens.
Und Eugen Schönebeck! Ihm ist in der Ausstellung Die Macht des Alters ein Ehrenplatz vorbehalten; er schuf nichts für unsere Ausstellung, das aber mit Entschiedenheit. Er ist präsent seit dreißig Jahren, in denen er konsequent nicht malte, obwohl er es bis dato genauso gut konnte wie Georg Baselitz.

Wer das mit einer Flucht in die Rentnergemütlichkeit gleichsetzt, hat noch nicht erfahren, was uns die Zehn Gebote wie auch andere sinnvolle Regelwerke abverlangen: Du sollst nicht!

Vor allem sollst du dir kein Bildnis machen von Deinen Idealen.

Verstehen und Gebrauchen

Vom bedeutendsten Wissenschaftsphilosophen unseres Jahrhunderts, Karl Popper, lernten alle Wissenschaftler, daß man nur durch Scheitern erfolgreich zu arbeiten vermag.
Popper nannte dieses Verfahren „Falsifikation“, also Nachweis der Falschheit. Wissenschaftler arbeiten überwiegend daran, ihre eigenen Annahmen (Hypothesen) zu widerlegen.

In den Künsten unseres Jahrhunderts wurde ebenfalls „Scheitern“ als Form des Gelingens zum Thema gemacht. Wenn sich Künstlern die Aufgabe stellt, das Unbekannte, Neue, Unfaßbare und Unsichtbare sichtbar zu machen, müssen sie sich selbst widerlegen. Was sichtbar wird, ist das Sichtbare – und nicht das Unsichtbare, um das es eigentlich gehen sollte. Damit sind sie an ihrer Aufgabe gescheitert!

Ein moderner Künstler arbeitet also nur solange erfolgreich, wie er bestätigt, was nicht gelingen kann.

Niemand hat im 20. Jahrhundert die peinigende Frage „Und das soll Kunst sein?!“ radikaler gestellt als die Künstler selbst.
Sie entdeckten lange vor den Spezialwissenschaften, daß zwischen dem, was wir denken, fühlen oder innerlich vorstellen können und dem, was wir in Worten und Bildern, in Gesten und Tönen ausdrücken, eine unüberbrückbare Lücke klafft; besonders intensiv nehmen wir diese Lücke wahr, wenn wir zu verstehen versuchen, was andere mit Worten und Bildern, mit Gesten und Tönen zu sagen beabsichtigen.

Der Alltagsmensch behilft sich mit Lexikon-Definitionen, Konventionen der Kommunikation und mit Nachfragen, was denn wohl gemeint sei und fordert die Partner auf, noch einmal und noch einmal zu versuchen, das Gemeinte „verstehbar“ werden zu lassen.
Für die individuellen Eigentümlichkeiten künstlerischen Gestaltens gibt es keine Lexika. Gäbe es sie, wäre die Gestaltung in ihren Elementen nicht individuell. Man kann einen Maler nicht bitten, seine Malerei ständig noch einmal zu formulieren, um sie bei irgendeinem weiteren Versuch besser verstehen zu können, sonst würden Künstler fortwährend nur ein einziges Werk für einzelne Betrachter zu formulieren und immer erneut umzuformulieren haben.

Banal, aber hilfreich: Künstler müssen den Mut zur Lücke haben, die wir im Alltagsleben – beim Arzt, beim Vertragsabschluß, beim Autofahren – so weitgehend als irgend möglich vermeiden sollen.

Zugespitzt formuliert: wir sollten die Arbeiten der Künstler als Versuch schätzen lernen, die Lücke zwischen Denken und Handeln, zwischen Wort und Tat, Begriff und Anschauung produktiv zu nutzen.

Das allgemein gefürchtete Mißverstehen nutzen wir beim Kunstwerk als Anregung, unser Denken und unsere Fähigkeit zur Kommunikation zu erproben – ohne Scheu und ohne Furcht vor negativen Folgen.

Vorbereitet für eine solche Erprobung sind alle, die mit Tieren kommunizieren. Jeder Fachmann belehrt uns, daß wir Tiere nicht verstehen, uns aber sehr wohl mit ihnen verständigen können.

Es ist mehr als ein hilfloser Witz zu behaupten, daß Männer und Frauen oder Angehörige verschiedener Kulturen sich nicht verstehen können. Dennoch wird niemand leugnen, daß sie sich wechselseitig produktiv nützen können.

Wären wir darauf angewiesen, uns selbst und die Welt, in der wir leben, verstehen zu müssen, bevor wir auch nur einen Lichtschalter betätigen, säßen wir für immer im Dunkeln.

Den Umgang mit Kunstwerken auf das Verstehen zu fixieren, wird stets scheitern. Erst, wenn wir dieses Scheitern akzeptieren, wird eine produktive Nutzung gelingen. Dazu bedarf es einer gewissen heiteren Souveränität, Gewitztheit und Vorbehaltlosigkeit.

Es gehört zu den unbestrittenen Vorzügen eines gelungenen Alterns, nicht mehr ständig das Verstehen einklagen zu müssen.
Wer die heitere Gelassenheit des Scheiterns nicht aufbringt, wird – mit aller Gewalt – versuchen, Werk und Wirkung, Form und Inhalt, Denken und Handeln hundertprozentig übereinstimmen zu lassen. Solche Leute nennt man Dogmatiker oder Fundamentalisten, die es nicht nur in der Politik und in den Kirchen gibt.
Auch Künstler verfolgten andere Künstler als „entartete“. Allen diesen Fundamentalisten ist eines gemeinsam: sie sehen sich umso mehr bestätigt, als sie mit ihrer Erzwingungsstrategie für eindeutiges Verstehen scheitern. Sie werden zu Märtyrern, zu Heroen des Scheiterns. Sie vergewissern sich ihrer Bedeutung durch den Widerstand, den sie erfahren – eine gefährliche, aber verführerische Logik.

Wem aber schlechterdings zu gelingen scheint, was er will, muß aufpassen, daß ihn nicht sein Erfolg scheitern läßt.
Das Centre Pompidou wurde ruiniert durch seine Attraktivität, die viel mehr Menschen täglich anlockte, als der Bau verkraften konnte. Viele „Kulturereignisse“ sabotieren sich selbst, weil die überaus große Teilnahme verhindert, daß der Anlaß überhaupt wahrgenommen werden kann. Oft sieht man vor lauter Museumsbesuchern die Kunstwerke nicht mehr.
Die Ausstellungen werden durch Erfolg zerstört, Gelingen wird zur Form des Scheiterns.

Alte – Hoffnung der Künstler

Ein garstig Lied: Klagen, Klagen, Klagen – niemand habe mehr Zeit, sich Ausstellungen ausführlich anzusehen. Culture hopping durchs Museum: drei Großausstellungen pro Woche und dann auch noch Galeriesurfen.

Die Truppe des Filmemachers Jean-Luc Godard hält den Weltrekord: in 14 Minuten durch den Louvre. Der touristische Gruppengalopp ist inzwischen zum Bewegungsmuster der Kunstaneignung geworden. Lohnt es sich da überhaupt noch, fürs Publikum zu malen, wenn keiner mehr Zeit und Mittel aufwendet, um sich mit einem Werk angemessen zu beschäftigen?

Wären da nicht die Alten!
Wer, wenn nicht sie, erfüllt alle Bedingungen professioneller Betrachterrollen: Zeit, Unabhängigkeit und Urteilsvermögen.
Sie sind nicht mehr abgelenkt durch die Notwendigkeit, ihr Einkommen zu sichern, die Karriereleiter zu erklimmen oder gesellschaftliche Geltung zu erringen.
Mithin sind sie die eigentliche Hoffnung für Künstler, die ein professionelles Publikum brauchen: Leute, die Fragen stellen, Forderungen vorbringen und uneigennützig kritisieren.

Im Vergleich zu jüngeren sind alte Menschen aufgrund ihrer größeren Erfahrungen auch viel fähiger zu unterscheiden – schließlich haben sie persönlich verschiedenste Zumutungen von künstlerischen Ausdrucksformen, Avantgarden oder Stilen hinter sich gebracht. Wer seit 50 Jahren ins Museum geht und das Interesse noch nicht verloren hat, hat das Examen für professionelles Publikum bestanden!
Die Alten sind endlich wieder eine definierbare Adressatenschaft – nur ein solches Profi-Publikum kann Partner für Künstler sein.

siehe auch:

  • Die Macht des Alters

    Die Macht des Alters

    Ausstellungskatalog · Erschienen: 04.09.1998 · Autor: Brock, Bazon · Herausgeber: Brock, Bazon